Zu den Mechanismen ideologischer Disziplinierung an DDR-Universitäten

III. Gesinnungverbrechen zum ersten - Aufspüren: Äußerungen, Hinhören, Denunzieren

Unter den künftigen "Diplom-Philosophen" gab es Studenten erster und zweiter Klasse: alle waren in der FDJ, aber manche waren auch in der Partei! Sie waren über die Parteigruppe bereits mit dem "Lehrkörper" und damit den Förderern ihrer Karriere verbunden. "Informationsmäßig" waren sie bevorzugt - aber auch verpflichtet. So erfuhr z.B. die Genossin Susanne Börner, Sekretärin der FDJ-Leitung der Sektion, dass dieser Reiprich aus dem ersten Studienjahr nicht die Absicht hatte, in die SED einzutreten. Dies wurde allerdings perspektivisch von allen Ideologie-Kadern erwartet. Und man durfte eine Ablehnung höchstens bescheiden vortragen, sich noch "unreif fühlen", sie aber nicht keck gegenüber irgendwelchen Kommilitonen äußern. Das war überheblich. Und musste dem Genossen Sektionsdirektor weitergemeldet werden.

Auch war es normal, dass eine SED-Studentin wie Petra Strehle vor dem Parteikollektiv berichtete, Reiprich sei im mittlerweile verbotenen Arbeitskreis Literatur und Lyrik mit abweichenden Meinungen aufgetreten und habe Disziplinarmaßnahmen des Kulturstadtrates Moser kritisiert, in dem er sich mit Freunden solidarisiert habe, die der Kulturfunktionär wegen ideologischer Abweichung mit Hausverbot belegt hatte . Unnormal wäre gewesen, wenn der Beschuldigte davon spontan erfahren hätte.

Der Parteigruppenorganisator (PGO) Hans-Joachim Obst hatte auch mal Gedichte geschrieben, kannte den Jürgen Fuchs vom Poetenseminar. Er war allerdings bereits dem MfS als "perspektivischer Kaderhinweis" aufgefallen und gehörte bald einer anderen "Bewegung schreibender Arbeiter" an, von der Lutz Rathenow gut anderthalb Jahrzehnte später sagen sollte, sie habe gegenüber der Literatur an einem "Marquis-de-Sade-Komplex" gelitten. (Bitte nicht lachen über die schreibenden Arbeiter - MfS-Offiziere gehörten per definitionem zur "Arbeiterklasse".) Sicher wäre Hans-Joachim nicht erfreut gewesen, zu hören, dass ich während meiner Armeezeit, im Dezember 1974, unmissverständlich eine Zusammenarbeit mit der Stasi, die auch Förderung des Studiums anbot, abgelehnt, die zu bespitzelnden Freunde informiert und somit den Kontakt sofort deskonspiriert hatte. Leider redete die Freundin des einzigen Kommilitonen, mit dem ich mich etwas angefreundet hatte, zuviel. Irgendwie bekam das Parteiaktiv davon Wind.

Man konnte aber auch auffallen durch scheinbar konforme aber eigenständige Gedanken. Eines Tages diskutierte ich mit einer Studentin über die Lehrmeinung, die Sowjetunion habe 1945 gesetzmäßig über den Hitlerfaschismus gesiegt, der Sieg des Sozialismus sei unaufhaltsam. Ich wandte ein, vom Kommunistenführer Palmiro Togliatti sei überliefert, die italienischen Genossen hätten ‘45 eigentlich geplant, bewaffnet die Macht zu ergreifen, um die Diktatur des Proletariat zu errichten, ebenso die französischen Kommunisten. Die Partisanenverbände seien stark gewesen, der Kommunismus hätte Mittelmeer und Atlantik erreichen können. Togliatti zufolge habe man aber schweren Herzens den Aufstand abblasen müssen. Denn die Amerikaner hatten mit dem verbrecherischen atomaren Paukenschlag von Hiroshima die Rote Armee an der Invasion Japans gehindert. Sie würden auch in Europa nicht gezögert haben. Wenn man sich nun aber vorstelle, die Amis hätten wegen der Erkrankung von ein paar Wissenschaftlern die Bombe nicht rechtzeitig fertig gekriegt, oder die sowjetischen Akademiks wären etwas genialer gewesen, dann müsse man doch zugeben, dass der Zufall oder auch der subjektive Faktor eine entscheidende Rolle in der Geschichte spiele. Womöglich hätten es auch die Nazis als erste schaffen können und wir müssten jetzt Herrenmenschen spielen, ohne enge Jeans, Gitarre und lange Locken - widerlich. Das Mädchen schaute mich sehr seltsam an. An den Dialektischen Determinismus hat sie dabei wohl nicht mehr gedacht.

Es ist leicht, "aus heutiger Sicht" dem Studenten Reiprich Naivität vorzuwerfen. Was ja richtig ist, so wie es auch stimmt, dass (fast) alle Menschen (fast) immer partiell naiv sind. Und er war gerade erst 20 Jahre alt. Und aufgewachsen in einer geschlossenen Gesellschaft. Aber so monolithisch war die DDR der frühen 70er eben nicht mehr. Auf dem Poetenseminar des Zentralrats der FDJ in Schwerin hatte ich nur ein Jahr zuvor einen sowjetischen Literaturkritiker kennengelernt. Er hatte freundlich über meine Versuche geredet, und wir kamen bald auf einen "großen Dichter deutscher Sprache" zu sprechen, den wir beide verehrten - Wolf Biermann.

Wie auch immer, wer an der FSU Jena, Sektion Philosophie, "schief diskutierte", musste sich nicht wundern, schon nach wenigen Wochen die Gretchenfrage gestellt zu bekommen: "Was hältst Du eigentlich von Dubcek?", wollte Susanne Börner aus dem höheren Studienjahr wissen. Dass dieser doch einmal ein guter, in der Sowjetunion erzogener Genosse war, vielleicht etwas Gutes gewollt habe, wie die spanischen und italienischen Eurokommunisten meinten, dass all dies für mich noch offene Fragen seien, war keine gute Ausrede. Eine Aussprache war fällig.

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