Zu den Mechanismen ideologischer Disziplinierung an DDR-Universitäten

I. Hintergrund: die Universitätsstadt Jena

Anfang der 70er Jahre war Walter Ulbricht, jener altstalinistische Partei- und Staatschef, der das sowjetische Tauwetter der 60er als einziger kommunistischer Führer im Ostblock politisch überlebt hatte, endlich doch von seinem Ziehsohn Honecker gestürzt worden, der anders als der "Spitzbart" einer sowjetischen Entspannungspolitik nicht mehr im Wege stand. Hoffnung keimte auf. Chefideologe Kurt Hager verkündete, es könne für Autoren, die auf dem Boden des Sozialismus stünden, keine Tabus mehr geben. Eine gewisse Liberalisierung erfasste die Kulturlandschaft. Aufsehenerregende Bücher erschienen, wie die "Neuen Leiden des jungen Werther" von Ulrich Plenzdorf. Der verfemte Wolf Biermann sang zu den Weltfestspielen der Jugend und Studenten 1973 auf den Straßen Ostberlins, ohne verhaftet zu werden. Eine DDR-eigene Rockmusikszene entstand. Die populäre Klaus-Renft-Combo brachte Songs, die der hart am Erlaubten entlang schrammende Gerulf Pannach getextet hatte. Selbst die FDJ-Poetenbewegung gab sich formal pop-artifiziell.

Im schon immer unruhigen thüringischen Jena hatten junge Leute mit lyrischen und politischen Ambitionen, ausnahmslos Kinder der DDR, also a priori auf dem Boden des Sozialismus stehend, den "Arbeitskreis für Literatur und Lyrik" gegründet. Zuerst in der Wohnung von Lutz Rathenow, dann wurde dieser von der FDJ als Leiter akzeptiert und die Gruppe bekam einen Raum im Kulturhaus Jena/Neulobeda. Jürgen Fuchs arbeitete mit uns zusammen, Wolf Biermann tauchte auf - Robert Havemanns Tochter Sybille studierte in Jena. Jugenddiakon Thomas Auerbach leistete in der Jungen Gemeinde Stadtmitte eine unerhört Offene Arbeit.

Es war jedoch nicht so, wie sich im Westen sozialisierte Menschen vorstellen mögen, dass StudentInnen die Szene dominiert hätten. Man muss wissen, dass zu dieser Zeit in der konservativen DDR nur ca. 8%-10% eines Jahrgangs überhaupt Abitur machen durften. Abgesehen von politischer, religiöser und soziologisch-"klassenmäßiger" Diskriminierung stellten die Abiturienten eine Leistungselite dar. Doch es blieben bei den 90% jungen Facharbeitern genügend Begabungspotentiale, und die genannte Diskriminierung, sowie die Verweigerung von Studienplätzen für bereits auf der "Penne" negativ "Aufgefallene" erhöhten diese noch.

Die "Szene" konnte sich jedoch nicht derart selbst organisieren, wie man sich das als Westler so denkt. Es gab keine Telefone (bis auf Ausnahmen), keine Copyshops, keine die jungen Bedürfnisse wirklich aufnehmenden Funk- und Fernsehsendungen, keine Stadtzeitungen mit politisch-kulturell freier Anzeigenannahme, keine freien Schüler- und Studentenzeitungen, sehr wenig Kneipen, Cafés und sonstige Treffpunkte. Es herrschte immer noch, was Rudolf Bahro die "Atomisierung der emanzipatorischen Interessen" genannt hatte.

Aber gerade Jena bot Bedingungen, dies zu durchbrechen. Drei Größen wirkten zusammen: Tallage, Studenten, Lehrlinge. Jena liegt im Saaletal, man traf sich, aus allen Himmelsrichtungen kommend, mehr oder weniger zufällig auf dem alten Marktplatz. Wer sich zu Besuch ankündigen wollte, musste eine Postkarte schreiben. Lieber klingelte man einfach spontan bei Freunden. Die Stadt war mit hunderttausend Einwohnern für DDR-Verhältnisse schon groß, wofür auch Neubaugebiete wie Neulobeda sorgten. Die Universität zog Studenten an. Sie trafen sich in den wenigen Kneipen oder im Studentenclub "Zur Rosen", kurz "der Keller". Durch das Zeisskombinat, die Großbetriebe Jenapharm und VEB Otto Schott&Gen. kamen Lehrlinge. Lehrstellenprobleme wurden in der DDR sehr einfach gelöst: "Was willst Du werden, Dreher oder Fräser? - ab nach Thüringen", sagten die Werber. So fanden sich Jugendliche aus Mecklenburg in Jenaer Lehrlingswohnheimen wieder. In der Stadt Carl Zeiss´, Otto Schotts und Ernst Abbés trafen sie auf Residuen der Arbeiterkultur, die von der "Arbeiterpartei" SED mehr und mehr zerstört wurden. In der "JG" (Junge Gemeinde) Stadtmitte, gleich neben dem Studentenkeller, trafen die besonders von westlicher Rock&Blues-Dekandenz angehauchten ihresgleichen.

Und es gab noch Studenten, die nach der dritten sozialistischen Hochschulreform 1967, der Umstrukturierung der Gesellschaftswissenschaften nach einem Politbürobeschluß von 1968 kaum eine, und nach der Biermann-Ausbürgerung von 1976 gar keine Chance mehr gehabt hätten, DDR-Universitätsgebäude von innen zu sehen. 1971 von Weimar nach Jena umgezogen, lernte ich als 16jähriger Schüler DDR-68er-Studenten wie Henry Crasser, Reinhard "Basé" Fuhrmann, Joachim "Ede" Bitter, die Gebrüder Stötzer, Bernd Rolle und andere. Henry Crasser bewahrte mich davor, ein Gedicht, das die Mauer thematisierte, an eine Schulwandzeitung zu hängen - es wäre mein letzter literarischer aber auch schulischer Akt in der EOS "Johannes R. Becher" gewesen. Von diesen Studenten konnte verbotene Literatur bekommen, wer sich als vertrauenswürdig erwies. Dorothea Strekies aus Greiz kannte den verbotenen Lyriker Reiner Kunze aber auch eine schillernde Figur wie den später als Ibrahim bekannt gewordenen Manfred Böhme. Der Psychologe Jochen-Anton Friedel kümmerte sich um Lehrlinge, verschaffte kulturelle Angebote. Er arbeitete im Universitätsfilmclub mit, der so etwas wie Programmkino machte. Das Publikum kannte und erkannte einander.

Und vielleicht darf auch gefragt werden, ob es so etwas wie den "genius loci" gibt. Was immer man von Prof. Rupert Sheldrakes "morphischen Feldern" halten mag, und auch wenn ich mich als Physiker äußerster Skepsis gegenüber jeder Esoterik befleißige, so stehe ich doch nicht an, zuzugeben, daß ich als junger Bursche in Jena fühlte, dass "etwas in der Luft lag", hier "ein anderer Geist wehte". Die im folgenden skizzierten Vorgänge spielen in Gebäuden, die wenige Meter von dem Ort entfernt liegen, an dem Friedrich Schiller einst seine Antrittsvorlesung hielt, an einer Universität, die mit den Namen Fichte, Schelling und Hegel verbunden ist.

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