In Westberlin schrieb ich an Günter Grass, da Lutz Rathenow mich gebeten hatte, ihm eine Nachricht zu überbringen. Grass reagiert sehr freundlich (u.a. mit Lob für mein Talent Prosa zu schreiben, was mich jedoch nicht davon abhielt, Physik zu studieren) und lud uns ein. Wir waren von ihm und Johanno Strasser, der auch da war, begeistert ("...so´n linker Typ kann im Westen Professor werden - klasse!" - "geil" sagte man damals noch nicht). Sie haben sich durchaus für die Gärungsprozesse im Osten interessiert, aber hübsch demokratisch-sozialistisch mußte alles bleiben, d.h. Sozialismus durfte nicht in Frage gestellt werden. Bahros Buch stand, mit vielen Lesezeichen verziert, im Regal. Das war schon komisch: Ich hatte das Werk in Jena fast vollständig mit der Schreibmaschine abgeschrieben (12 Durchschläge in grausiger Qualität) und im Untergrund verteilt, die Stasi immer im Nacken, die das aber nicht rauskriegte. Und hier stand Die Alternative nun, ein Buch von vielen...
Es folgten noch einige Einladungen zu Salons, aber das Publikum war nicht so mein Fall: alle Probleme im Westen wurden mimosenhaft, die im Osten dafür kaum wahrgenommen. Jürgen Fuchs sei "habituell ein Anarchist", meinte Strasser - und mir klappte der Unterkiefer runter.
1989 haben wir Grass´ Einlassungen nur mit Kopfschütteln, aber auch mit Bitterkeit zur Kenntnis genommen - wollten die Linken im Westen ewig und auf unsere Knochen für Auschwitz büßen? Verdammte linke Spießer – links reden, rechts leben! Trotzdem war die Ablehnung einer Vereinigungspolitik, wie sie die Regierung Kohl/Genscher vorantrieb zumindest legitim. Man kann Günter Grass nicht vorwerfen, daß er die Freiheit im Osten nicht gewollt habe, auch wenn seine Vorstellungen von der Ausgestaltung derselben nicht mehrheitsfähig waren.
Was nun seine SS-Verstrickung betrifft, so hat er sich durch seine Feigheit vor der eigenen Geschichte wohl doch sehr geschadet. Die Art, wie er über einen katholischen Antifaschisten wie Konrad Adenauer redete - und redet! – war mies, die Einlassungen zu Kohl und Reagan in Bitburg Mitte der 80er fallen nun auf ihn selbst zurück. Nach 1989 haben wir „Ost-Dissis“, wie Jürgen Fuchs es nannte, alle Stasiverstrickten aufgefordert, „ins Offene“ zu kommen, sich „ehrlich (zu) machen“, nur die Wahrheit mache frei, nur auf ihrer Basis gebe es Versöhnung. Dies gilt bis heute, und ich werde fast tagtäglich in meiner Arbeit in dieser Gedenkstätte mit dem Thema konfrontiert, gerade, weil die alten Stasikader und ihre jüngeren Nachfolger wieder „aus den Löchern kommen“. Günter Grass ist uns mit seinem unsäglichen Wort von der DDR als einer „kommoden Diktatur“ in den Rücken gefallen, hat großen Schaden angerichtet. Er half den Stasi- und SED-Tätern, ermutigte die Mitläufer und verhöhnte die Opfer, ob ihm das bewußt war oder nicht.
Und warum? Weil er selbst inkonsequent blieb, selbst feige war, doch auf andere einhieb, weil er der narzisstischen Gratifikationen nicht entsagen wollte, welche die Rolle eines moralischen Groß-Apostels mit sich brachten! Nichts durfte vergleichbar schlimm wie Faschismus gewesen sein, keine Konkurrenz durfte aufkommen...
Was wäre gewesen, wenn er sich 1950, 1960 ins Offene gerettet hätte? Ehrenbürger Danzigs, Nobelpreisträger wäre er wohl nie geworden – Ja und? Dies kann uns nicht beeindrucken, die wir Freiheit und Existenz, manchmal auch das Leben riskierten, um „in der Wahrheit (zu) leben“. Günter Grass hat fast ein ganzes erwachsenes Leben in der Lüge gelebt, zumindest einer halben. Aus der mit der Zeit früher oder später eine ganze wird.. Schade, sehr schade, und bitter, sehr bitter.
Mit freundlichen Grüßen
Siegfried Reiprich